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Deutlicher Anstieg der Suizidraten in Deutschland

Experten sensibilisieren für politisches und gesellschaftliches Problem
Die starke Belastung der Bevölkerung durch die Krisen der vergangenen Jahre spiegelt sich in einer aktuellen Analyse von Wissen­schaftlern der Universitätsmedizin Leipzig wider. Waren die Suizidraten vor den Jahren der Pandemie in Deutschland noch im Abwärtstrend, sind sie im Jahr 2022 deutlich gestiegen (Anstieg um 9,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Vor allem in der Alters­gruppe ab 60 Jahren. Das Bundesland Sachsen verzeichnet dabei die höchste Suizidrate. Die Studienautoren PD Dr. Daniel Radeloff und Professor Dr. Jon Genuneit ordnen die Zahlen in ihrer aktuellen Forschungspublikation ein.

Sie werten gemeinsam mit Ihren Kollegen an der Universitätsmedizin Leipzig regelmäßig Statistiken zu Todesfällen und Daten aus der Kriminalstatistik aus. Sind Sie überrascht von dem deutlichen Anstieg der Suizide?
Radeloff: Wir wissen, dass Vorhersagen der Suizidraten fehleranfällig sind. Schon während der COVID-19 Pandemie befürchteten Fachleute einen Anstieg der Suizide. Dies hat sich rückblickend für Deutschland, aber auch international nicht bestätigt. Angesichts der vielfältigen Belastungen, die uns die Pandemie abverlangt hat, ist diese Resilienz erstaunlich. Gerade deshalb hat uns der deutliche Anstieg der Suizidraten um 9 Prozent bei Männern und 7 Prozent bei Frauen im Vergleich zum Vorjahr nach Berücksichtigung der Altersverteilung überrascht, auch wenn die geopolitischen und wirtschaftlichen Verwerfungen des Jahres 2022 ohne Frage ein Risikoumfeld darstellen.

Worin liegen die Besonderheiten Ihrer Analyse?
Genuneit: Die Suizidraten werden regelmäßig vom Statistischen Bundesamt ausgewertet, allerdings liegen die Ergebnisse erst Ende des Folgejahres vor, so wurden die Zahlen für 2022 kürzlich veröffentlicht. Wir haben für unsere Analyse die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik für 2022 verwendet, die uns bereits im Februar vorlagen. Diese sind zwar nicht ganz so exakt wie die Daten des Statistischen Bundesamtes, weil sie unter anderem nicht bei nachträglicher Klärung durch eine Obduktion korri­giert werden. Aber wir konnten damit dennoch verlässlich und vor allem deutlich schneller die Änderung der Suizidraten wissen­schaftlich dokumentieren. Das ist wichtig für zeitnahe politische Maßnahmen und die rechtzeitige Schaffung eines Problem­bewusst­seins bei Akteuren im Gesundheitswesen sowie in der gesamten Gesellschaft.

Sachsen hat laut den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts mit rund 17 Suiziden pro 100.000 Einwohnern im Vergleich der Bundesländer die höchste Suizidrate. Kann man das mit dem hohen Durchschnittsalter in diesem Bundesland erklären?
Radeloff: Eine Abweichung zu anderen Bundesländern ist bekannt, wobei die Suizidraten in Teilen durch die abweichende Alters­struktur und Unterschiede in der regionalen Bevölkerungsdichte erklärt werden können. Bei Männern liegen die Suizidraten unter Berücksichtigung der Altersverteilung in den vergangenen Jahren in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen höher als in ande­ren Bundesländern; bei Frauen sind es neben Sachsen auch Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein. Ein Ranking der Bundes­länder sollte nicht in den Fokus rücken, denn das Suizidrisiko ist ja für Menschen in einer Notlage veränderbar. Insofern sind wir dafür, die Chancen zu betonen: Wir sollten uns den individuellen Handlungsspielraum bewusst machen, der die Bewälti­gung einer Krise ermöglicht. Der wird regelmäßig unterschätzt.

Wieso ist vor allem die Altersgruppe ab 60 Jahren laut Ihrer Analyse betroffen?
Genuneit: Wir haben in unserer Studie dargestellt, dass die Suizidraten in 2022 nicht mehr dem Trend der Vorjahre folgen und dass dies keine zufällige Schwankung ist. In der Tat konnten wir feststellen, dass diese Änderung vor allem durch die älteren Bevölkerungsgruppen getragen wird. Die Ursachen für den Anstieg des Suizidrisikos in dieser Altersgruppe können wir mit unseren Daten nicht aufdecken. Möglicherweise waren Menschen höheren Alters in 2022 mit stärkeren finanziellen und Zukunfts­sorgen konfrontiert als jüngere Menschen.

Sie sprechen das Thema Unterstützung an. Wir befinden uns in einer trüben und dunklen Jahreszeit. Haben Sie Ratschläge für Menschen, denen ihre Probleme über den Kopf wachsen?
Radeloff: Achten Sie auf sich und vertrauen Sie sich Menschen in Ihrem Umfeld an. Ziehen Sie in Erwägung, sich durch Fachleute beraten zu lassen. Falls Sie Suizidgedanken haben, stehen Ihnen rund um die Uhr Expertinnen und Experten im jugend- und erwachsenenpsychiatrischen Notdienst zur Seite. Sie können auch niederschwellige, anonyme Beratungsangebote außerhalb der klassischen klinischen Versorgung nutzen – beispielsweise per Telefon oder per App.

Originalpublikation in Psychiatry Research: Suicide trends in Germany during the COVID-19 pandemic and the war in Ukraine. DOI: https://doi.org/10.1016/j.psychres.2023.115555

Weitere Informationen: Die Daten der Publikation zu Suiziden stammen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) der Landeskriminalämter und der nationalen Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamts (Destatis) Deutschland 2023.

Zitiert nach einer Pressemitteilung der Universität Leipzig vom 04.12.2023