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Mehr magersüchtige Männer durch Pandemie?
Essstörungen: Berufstätige wegen Anorexie & Co. deutlich länger krankgeschrieben
Die Corona-Krise hinterlässt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei jungen Erwachsenen und Mittfünfzigern große seelische Spuren. Dies zeigt sich laut Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse insbesondere in Form eines gestörten Essverhaltens. Überraschend: Vor allem bei Männern haben Essstörungen wie Anorexie und Bulimie im ersten Corona-Jahr rekordverdächtig zugenommen. Laut Analyse ist der Anteil der 18- bis 24-jährigen Männer mit einer entsprechenden Diagnose von 2019 auf das erste Corona-Jahr 2020 um fast 19 Prozent angestiegen. Aber auch bei den 50- bis 59-jährigen Männern registriert die KKH ein überdurchschnittliches Plus innerhalb dieses einen Jahres von 12 Prozent. In der Regel zeigen Jahresvergleiche eine Veränderung von 3 bis 4 Prozent. Bei den Frauen ist der Anteil der Erkrankten seit Corona vergleichsweise nur leicht gestiegen, allerdings machen sie mit mehr als 80 Prozent nach wie vor die große Mehrheit der Betroffenen aus.
Weitere KKH-Daten zeigen, dass Berufstätige seit der Pandemie nicht nur häufiger, sondern auch länger wegen Anorexie, Bulimie oder Binge Eating im Job fehlen: Demnach stieg die Zahl der Krankheitsfälle im ersten Pandemie-Jahr im Vergleich zu 2019 um fast 26 Prozent. Die Krankschreibedauer erhöhte sich von 2019 auf 2020 um durchschnittlich 4 Tage pro Fall, bei den Männern sogar um fast 19 Tage.
Pandemie als Brennglas für Konflikte
„Gerade für Patienten, die bereits an einer Essstörung leiden, ist die Pandemie eine harte Belastungsprobe, denn seitdem fehlen häufig eine geregelte Tagesstruktur sowie soziale Kontakte“, erläutert Aileen Könitz, Ärztin und Expertin für psychiatrische Fragen bei der KKH. Die Betroffenen beschäftigen noch mehr als üblich mit sich selbst, ihrer Unsicherheit und ihren Zweifeln. Zudem treten familiäre und berufliche Konflikte in Krisen wie der Corona-Pandemie häufig wie unter einem Brennglas hervor. Diese Umstände können bestehende Erkrankungen verschärfen, einen Rückfall auslösen oder eine Neuerkrankung begünstigen. Weitere Gründe für Essstörungen können traumatische Erlebnisse wie Missbrauch und schweres Mobbing sein. Darüber hinaus spielen die erbliche Veranlagung und häufige Diäten eine Rolle.
Seit der Corona-Pandemie hat im Berufsleben außerdem eine Form der Kommunikation Einzug gehalten, die vorher vielen fremd war: die Videokonferenz. Ähnlich wie Fotos und Videos in sozialen Medien können die Chats mit den Kollegen das eigene Selbstbild beeinflussen und die Körperunzufriedenheit vor allem bei Menschen verstärken, die ohnehin von Selbstzweifeln und Perfektionismus geplagt sind. Darüber hinaus ist der Druck, im Beruf sowie im Privatleben stets das Beste erreichen und dabei auch noch perfekt aussehen zu müssen, für viele heutzutage groß – bei beiden Geschlechtern.
Essen gegen die Einsamkeit
„Essstörungen werden häufig von anderen psychischen Erkrankungen begleitet, etwa Depressionen und Angststörungen“, erläutert Aileen Könitz. Die Patienten versuchen, negative Gefühle wie Einsamkeit, Traurigkeit, Angst oder Wut über ihr Essverhalten zu regulieren. Sind Betroffene erst einmal an Magersucht oder Bulimie erkrankt, haben sie häufig ihr ganzes Leben damit zu kämpfen. Dennoch gibt es auch Frauen und Männer, die die Krankheit erst im Erwachsenenalter entwickeln. Könitz: „Auslöser können schwere Lebenskrisen und die Angst sein, in unserer jugendfixierten Gesellschaft nicht mehr mithalten zu können, weniger erfolgreich, nicht mehr anerkannt und konkurrenzfähig zu sein.“
Dass auch Ältere an einer Magersucht leiden können, ist bei Angehörigen, Freunden und auch Ärzten allerdings häufig nicht präsent. Deshalb geht Ärztin Könitz von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch bei Männern fallen Essstörungen oftmals nicht sofort auf, denn sie gehen in der Regel mit suchtartigem Krafttraining oder ähnlichen exzessiv betriebenen Sportarten einher. Das alles kann dazu führen, dass die Krankheit vor allem bei Erwachsenen zu spät oder im schlimmsten Fall gar nicht erkannt wird. Je später jedoch eine Essstörung behandelt wird, desto größer ist das Risiko eines chronischen Verlaufs.
Aileen Könitz rät Angehörigen, Freunden und Kollegen auf typische Symptome zu achten: eine allgemein gereizte oder gedrückte Stimmung, sozialer Rückzug und Gewichtsveränderungen sowie auffälliges Essverhalten (etwa Diät als Dauerzustand, eingeschränkte Nahrungsauswahl, Verzehr großer Mengen), Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, exzessiver Sport. Alarmzeichen sind auch, wenn Menschen unverhältnismäßig viel Aufwand für das eigene Aussehen betreiben und geliebte Hobbys plötzlich aufgeben.
Erläuterungen zur Datenanalyse:
Die KKH Kaufmännische Krankenkasse hat bundesweit Daten zur Häufigkeit von Essstörungen (F50 nach ICD-10) für die Jahre 2010, 2019 und 2020 ausgewertet. Experten unterscheiden dabei folgende Formen:
- die Magersucht (Anorexia nervosa), bei der Menschen bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht hungern ‒ getrieben von der Angst vor einem zu dicken Körper,
- die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), bei der Betroffene einen starken Zwang verspüren, ihr Körpergewicht zu kontrollieren und nach Essattacken erbrechen oder Abführmittel missbrauchen, um nicht zuzunehmen,
- die Binge-Eating-Störung, die mit wiederkehrenden, unkontrollierbaren Essattacken einhergeht und zu starkem Übergewicht oder gar Adipositas führt.
Zitiert nach einer Pressemitteilung der KKH Kaufmännische Krankenkasse vom 11.05.2022