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Stress lass nach
Die Stressreaktion des menschlichen Körpers ist eine Art Notfallprotokoll aus der Steinzeit. Zu unserer heutigen Lebensweise passt sie nur bedingt. Was bei Stress im Körper passiert, wer besonders anfällig ist und wann ein besonders schlechter Zeitpunkt für großen Stress ist – daran forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Max-Planck-Instituten für Psychiatrie und für Kognitions- und Neurowissenschaften.
Nur zehn Minuten Vorbereitungszeit? Dann soll ich einen Fünf-Minuten-Vortrag darüber halten, warum ich der geeignete Kandidat für diese Stelle bin? Ohne Merkzettel. Und das vor diesen zwei Psychologen in weißen Kitteln, beide Experten für nonverbales Verhalten, die mich regungslos beobachten. Audio und Video werden auch aufgenommen und analysiert. Und dann noch weitere fünf Minuten mittelkomplizierter Mathe-Aufgaben. Ach du meine Güte! Klingt nicht gerade nach einem gemütlichen Spaziergang am Feldrand. Das klingt eher nach maximalem Stress.
Und das soll es auch. Die Situation stammt aus dem Skript des Trier Social Stress Test, kurz TSST. Und dieser Test hat nur ein Ziel: Stress auslösen. Das klappt mit ihm besonders gut, denn die Testsituation vereint drei zentrale Komponenten von psychosozialem Stress: Neuheit, Unkontrollierbarkeit und Bedrohung für das Ego, das heißt, es geschieht etwas, das negativ für das eigene Selbstbild oder das Selbstwertgefühl ist. Psychologen und Stressforscherinnen nutzen den TSST, wenn sie Stress in wissenschaftlichen Studien simulieren wollen. Eine von ihnen: Veronika Engert vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Engert ist Psychologin, sie ist Professorin für Soziale Neurowissenschaft am Universitätsklinikum Jena, und am Max-Planck-Institut leitet sie die Forschungsgruppe „Sozialer Stress und Familiengesundheit“. Mit ihrem Team untersucht sie, wann Menschen in sozialen Kontexten Stress erleben, wie es dazu kommt und was dagegen schützen kann.
Ursprünglich ist das menschliche Stresssystem ja ein Notfallprotokoll, das uns binnen Sekunden mit Energie flutet, damit wir eine potenziell lebensbedrohliche Situation besser meistern können. Die Sinne werden schärfer, die Muskeln stärker, die Regenerationsfähigkeit steigt. Einst rettete die körperliche Stressreaktion oftmals Leben – heute aber hat die Weltgesundheitsorganisation den Stress zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt.
„Lebensbedrohliche Stressoren sind in unserer modernen westlichen Gesellschaft relativ selten geworden“, sagt Veronika Engert. „Das, was uns stresst, ist in erster Linie psychosozialer Natur.“ Das Gespräch mit dem Chef; der immer höher werdende Stapel unbezahlter Rechnungen; die Kinder aus der Kita abholen, während man ein Arbeitstelefonat führt; Stau. „Es gibt unzählige kleine Dinge im Alltag, die uns stressen, und das Interessante daran ist, dass der Körper darauf genauso reagiert, als würden wir durch einen Bären bedroht“, sagt Veronika Engert. Er schüttet zahlreiche Hormone aus, kurbelt den Blutdruck an, beschleunigt die Atmung. „Die zusätzliche Energie brauchen wir aber oft gar nicht – zum Beispiel, wenn wir im Auto sitzen und im Stau stehen. Die macht uns nur verrückt, und wir werden immer noch unruhiger.“ Ein weiteres Problem: Menschen haben heute viel häufiger Stress als früher. „So, wie wir unser Leben führen, haben die meisten von uns zu oft niedrigschwelligen Stress“, sagt Engert. Kleinigkeiten zwar, dafür aber viel zu viele und zu schnell hintereinander. „Bevor unser Körper zur Ruhe kommen kann, erscheint meist schon der nächste Stressor. Dadurch sind wir ständig auf einem erhöhten Stresslevel und köcheln in einem toxischen Cocktail an Stresshormonen.“
Gestresst zu sein, das ist in erster Linie schlecht für die Gesundheit desjenigen, der den Stress gerade erlebt. Aber nicht nur. Veronika Engert hat mit ihrer Arbeitsgruppe schon mehrfach gezeigt, dass wir nicht nur dann Stress erleben, wenn wir selbst Zeitdruck, Streit, Stau oder Ärger haben. Stress erleben wir auch, wenn wir sehen, dass andere Menschen gerade gestresst sind. Vor einigen Jahren veröffentlichte Engert mit mehreren Kolleginnen und Kollegen die Ergebnisse einer Studie mit 211 Paaren – entweder Lebenspartner oder zwei Menschen, die einander fremd waren. Im Labor absolvierte jeweils einer der Partner den TSST und wurde immer gestresster, während der oder die andere dabei zuschaute – per Videoaufzeichnung oder aber durch eine auf der anderen Seite verspiegelte Scheibe. Vor und nach dem TSST nahmen Engert und ihr Team Speichelproben, in denen sie anschließend den Wert des Cortisols untersuchten. Dieses vom Körper in der Nebennierenrinde gebildete Hormon wird vor allem bei Stress ausgeschüttet und dient Forscherinnen und Forschern als biologischer Marker für den Stress, den eine Person gerade erlebt. Und wie Engert und ihr Team sahen, stieg das Cortisollevel der Beobachtenden ebenso an wie das der aktiv gestressten Partner. Das schiere Wissen darüber, wie stressig die Situation für den anderen gerade sein musste, genügte, dass auch die Beobachtenden Stress empfanden. Nach dem Besuch im Labor baten die Forschenden jene Versuchsteilnehmenden, die auch im echten Leben Partner waren, an zwei weiteren Tagen jeweils sechs Speichelproben zu nehmen und sie dem Team zuzuschicken. Und auch im Alltag zeigte sich: Hatte ein Partner Stress, war auch der andere gestresst.
„Der Stress der anderen aktiviert auch meine Stressachse“, erklärt Engert das Phänomen, das die Forschenden auch „empathischen Stress“ nennen. „Dieser Effekt tritt sogar auf, wenn mir der oder die Gestresste fremd ist“, sagt Engert. „Aber je näher mir die gestresste Person steht, desto stärker erlebe ich den Stress selbst mit.“ Nur: Was bringt es einem, sich neben dem eigenen Stress auch noch vom Stress der anderen anstecken zu lassen? „Der empathische Stress hat durchaus eine sinnvolle Funktion“, sagt Engert. „Wenn ich als Mutter zum Beispiel miterlebe, wie mein Kind gerade Stress empfindet, dann gibt mir das die Energie zu helfen.“ Oder auch umgekehrt: Gehen Mutter und Kind über die Straße und ein Auto rast heran, dann kann das Kind die Situation vielleicht noch nicht einschätzen. Aber weil es den Stress der Mutter miterlebt, gewinnt es die nötige Energie und auch die Einsicht, um schnell zur Seite zu springen.
„Der empathische Stress hat also eine wichtige, eine positive Funktion“, sagt Engert. Doch wie so oft beim Stress gibt es auch hier eine Kehrseite: „Wenn ich mir ein Kind vorstelle, das in einem Haushalt mit chronisch gestressten Eltern lebt und den Stress ständig mit abbekommt, dann kann man sich gut vorstellen, dass sich das nicht gerade positiv auf die Gesundheit des Kindes auswirkt.“ Wie schlecht Stress tatsächlich für die Gesundheit ist und bei wem der Effekt besonders stark auftritt, das zeigt die Forschung von Mathias Schmidt am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. „Es gibt eine ganze Palette von Erkrankungen, von denen man weiß, dass Stress die Krankheitssymptome verstärkt oder sogar auslöst“, erläutert Schmidt. „Das betrifft zum Beispiel Angsterkrankungen oder Depressionen.“
Schmidt leitet die Forschungsgruppe „Neurobiologie der Stressresilienz“. Mit seinem Team untersucht er, welchen Einfluss akuter und chronischer Stress während verschiedener Entwicklungsstadien auf den Körper haben. Eine seiner Kernfragen: Wann und warum ist der eine eher resistent gegenüber Stress, wann und warum ist die andere besonders anfällig für Stress?
Zitiert nach einer Meldung des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie vom 30.03.2022